Was war denn hier früher mal? So oder so ähnlich kommt man schnell mit Nachbarn und Bekannten ins Gespräch und lernt das Eine oder Andere über die Geschichte eines Ortes, über die ehemaligen Bewohner, Eigentümer aber auch über größere Entwicklungen wie die Entstehung eines Dorfes oder einer Fabrik.

Albrecht hat dazu Karten und Messtischblätter* gesammelt, in alten Büchern und Registern geforscht. Wir freuen uns sehr diese kleine Reise durch die Vergangenheit der Franzigmark mit euch zu teilen. Zögert auch nicht uns zu kontaktieren wenn ihr etwas zur Geschichte dieser Gegend beitragen könnt. Erinnerungen und sonstigen Beiträge gerne an folgende Adresse senden: al.pohlmann@web.de.

Messtischblätter sind sehr genaue Landkarten, die seit rund 150 Jahren in verschiedenen Ausgaben erschienen sind. Sie zeigen die allmähliche Veränderung der Gegend. Obwohl es bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts meist keine Luftbilder zum Abgleich gab, waren diese Karten im Maßstab 1:25.000 (4 cm auf der Karte entsprechen 1 km in der Wirklichkeit) lange Zeit unübertroffen hinsichtlich Genauigkeit, Detailreichtum und Vollständigkeit. Die Messtischblätter gehen auf die zwischen 1830 und 1865 erfolgte militärkartografische Landesaufnahme in Preußen, die so genannte Preußische Uraufnahme zurück, deren handschriftliche Originale heute in der Berliner Staatsbibliothek (Stiftung Preußischer Kulturbesitz) aufbewahrt werden. (Noch detailreicher ist die Topografische Karte im Maßstab 1:10.000 – d. h., 10 cm auf der Karte entsprechen 1 km in der Wirklichkeit – Einzelblätter für Sachsen-Anhalt sind hier bestellbar.)

Meßtischblatt 2532 : Petersberg, 1876

Scale: 1 : 250000

Description: Petersberg. – Aufn. 1851, hrsg. 1872, bericht. 1876. – 1:25000. – [Berlin]: Reichsamt für Landesaufnahme, 1876. – 1 Kt.

http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71054642/df_dk_0010001_4437_1876

Die erste zivile, also zum öffentlichen Gebrauch gedruckte Ausgabe des Messtischblatts „Petersberg“ erschien 1876. Was auffällt, ist der Verlauf der Saale, die sich noch in einer „S-Kurve“ um die „Wüste Frantzig Mark“ und den „Tafelwerder“ schlängelt. Auf den umflossenen Landstücken finden sich bewirtschaftete Gehölze, Wiesen und Felder, aber auch die ersten Industrieansiedlungen wie eine Ziegelei und die 1862 von Wilhelm Benemann (auch Bennemann genannt) gegründete Wasserglasfabrik. Im Westen ist eine „Chemische Fabrik“ unmittelbar neben dem heutigen Umweltzentrum verzeichnet. Diese „Alaunfabrik“ – die niemals den tatsächlichen Alaun, Kaliumaluminiumsulfat, herstellte, sondern das „modernere“ Produkt Aluminiumsulfat (damals: „schwefelsaure Tonerde“, auch „konzentrierter Alaun“ genannt) – war 1854 von Otto Senff, einem Neffen des bekannten halleschen Malers Adolf Senff, gegründet worden. (Eine ausführliche Darstellung der Fabrikgeschichte findet ihr bald auf unseren Seiten). Die zahlreichen Kaolinvorkommen der Gegend und die Saale als Verkehrsweg sprachen für diese Gründung. Jedenfalls gab die Alaunfabrik dem heutigen Ortsteil von Morl seinen Namen. – Aluminiumsulfat war ebenso wie der „echte“ Alaun eine wichtige Chemikalie zur Papierherstellung, zur Ledergerberei und zur Textilfärberei.

Meßtischblatt 2532 : Halle (Nord) an der Saale, 1904

Scale: 1 : 250000

Description: Halle (Nord) an der Saale. – Aufn. 1902. – 1:25000. – [Berlin]: Reichsamt für Landesaufnahme, 1904. – 1 Kt.

http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71054643/df_dk_0010001_4437_1904

Die 1902 vorgenommene Kartierung zeigt einen veränderten Flusslauf: 1876, im Erscheinungsjahr der ersten Ausgabe, war die Saale am Tafelwerder im Interesse der Schifffahrt begradigt worden. Jetzt ist der südöstliche Teil des toten Saalearms – unterhalb der damaligen Einmündung der Götsche – bereits zugeschüttet und wird landwirtschaftlich genutzt.

Dass es hier eine Wüstung – ein von seinen Bewohnerinnen und Bewohnern aufgegebenes Dorf – namens „Frantzig“ gegeben haben musste, war alte Überlieferung und auch den preußischen Kartografen bekannt. Aus bisher unbekanntem Grund verorteten sie diese Wüstung allerdings seit 1904 auf dem Gelände des heutigen „Umweltzentrums Franzigmark“ – während der hallesche Stadtarchivar und Wüstungsforscher Erich Neuss 1969 (Wüstungskunde des Saalkreises, Teil 1) nachweisen konnte, dass sich der alte Siedlungsplatz tatsächlich etwa einen Kilometer südöstlich davon, nämlich genau auf der Stelle des heutigen „Gut Alaune“, befand. Aus Neuss’ Kartenskizze erfahren wir auch den alten Namen der Flur unmittelbar unterhalb der Dorfstelle: „Lange Wiese“.

Nähert man sich dem Platz vom Saaleufer, etwa von der heutigen Götschemündung her, so erscheint er aufgrund der örtlichen Gegebenheiten als idealer Wohnplatz: er befindet sich in unmittelbarer Nähe des Flusses, der Nahrungsquelle und Transportweg zugleich ist, liegt aber erhöht genug, um vor Überschwemmungen Schutz zu bieten und flussseitige Gefahren rechtzeitig erkennen zu können. Neuss nimmt hier eine Slawensiedlung des 7. und 8. Jahrhunderts an, die später von christlichen Siedlern überformt und im 14. Jahrhundert aufgegeben wurde. Für die damaligen Slawen war der Fischfang eine wichtige Nahrungsquelle, weshalb sie meist an Wasserläufen siedelten.

Alte Dorfstelle der Wüstung Franzig, aus: Erich Neuss, Wüstungskunde der Stadt halle und des Saalkreises, Teil 1, Halle (Saale) 1969, S. 58.

Archäologische Funde in der Franzigmark zeigen allerdings, dass das Gebiet bereits in der Altsteinzeit (Paläolithikum) besiedelt war.

Am Götscheweg, der von der Brachwitzer Straße abzweigt und zur heutigen Götschemündung unterhalb vom Gut Alaune führt, erhebt sich rechterhand ein Hügel, welcher auf dem ersten Messtischblatt von 1876 „Heidengrab“ genannt wird. Diese Ortsbezeichnung stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als interessierte Laien die vorgeschichtlichen Hügelgräber im Norden Halles entdeckten – und häufig genug ausplünderten. Es gab noch keine Standards für archäologische Ausgrabungen, und so fehlte stets die Dokumentation der Fundumstände. Der Chronist Sigmar von Schultze-Galléra schrieb 1913: „Diese … Höhen links und rechts der Saale sind ehemals mit Hunderten von alten Hünengräbern bedeckt gewesen; gleich vor uns über der toten Saale steigt steil ein Hügel empor, der noch heute das Heidengrab heißt. Oben aus seinem grünen Rasen sieht man noch 5 bis 6 solcher Hügel sich erheben, auf der Kuppe selbst thront noch ein einziges, größer denn die andern alle. Viele mögen schon in dem nahen Felde gänzlich zerstört worden sein, denn das Brachland ist immer mehr in den letzten Jahrzehnten zur Kultur herangezogen worden.“ (Schultze-Galléra, Wanderungen durch den Saalkreis, Bd. 1, S. 25)

Allerdings dokumentiert das „Heidengrab“ mit seinem geologischen Aufschluss am Götscheweg, der jetzt ziemlich zugewachsen ist, noch viel frühere Zeiten: Hier ist der so genannte Obere (also: jüngere) hallesche Porphyr zu sehen, der zum Ende der vulkanischen Periode in unserer Region (vor 295 bis 270 Millionen Jahren) entstanden ist. Halten wir also fest: Das „Gut Alaune“ steht auf einem uralten Siedlungs- und Rastplatz, der vermutlich bereits vor vielen Tausend Jahren genutzt wurde.

Meßtischblatt 2532 : Halle (Nord) a. d. Saale, 1912

Scale: 1 : 250000

Description: Halle (Nord) a. d. Saale. – Aufn. 1902, hrsg. 1904, einz. Nachtr. 1912. – 1:25000. – [Berlin]: Reichsamt für Landesaufnahme, 1912. – 1 Kt.

http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71054644/df_dk_0010001_4437_1912

Für die vergangenen zehn Jahre weist der Kartenausschnitt nur wenige Veränderungen auf. Ziegelei, Wasserglas- und Alaunfabrik sind nach wie vor die einzigen Ansiedlungen, Wohnhäuser sind immer noch keine verzeichnet – wobei angenommen werden kann, dass Fabrikdirektoren oder einzelne Angestellte in den Verwaltungsgebäuden der Fabriken wohnten. Das Gros der Arbeiter aber wird jeden Tag von den umliegenden Orten aus zu den Produktionsstätten gelaufen sein. Zum gegenüberliegenden Saaleufer bestand eine regelmäßige Fährverbindung nach Lettin, die bereits in der Ausgabe von 1876 verzeichnet ist.

Manche aktuelle Veränderung zeigen die Messtischblätter auch nicht – so heißt 1912 die Gebäudegruppe der Alaunfabrik auf der Karte immer noch „Chemische Fabrik“, obgleich diese bereits 1909 geschlossen worden war.

Meßtischblatt 2532, neue Nr. 4437 : Halle (Nord) a.d. Saale, 1931

Scale: 1 : 250000

Description: Halle (Nord) a.d. Saale. – Hrsg. 1904, bericht. 1920, einz. Nachtr. 1931. – 1:25000. – [Berlin]: Reichsamt für Landesaufnahme, 1931. – 1 Kt.

http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71054645/df_dk_0010001_4437_1931

Zwanzig Jahre später erscheint die nächste Messtischblatt-Ausgabe – das Blatt hat eine neue Nummer erhalten (4437) und heißt jetzt nicht mehr „Petersberg“, sondern „Halle (Nord) a.d. Saale“. Zutreffend wird die Alaunfabrik jetzt „Ehem. Chemische Fbr.“ Genannt. Die Gebäude werden vermutlich schon damals als Wohnungen genutzt.

Das ist aber eine nur geringe Veränderung. In der vergangenen Periode hat nicht nur ein Weltkrieg stattgefunden, sondern auch die Entwicklung Halles zur modernen Großstadt. Unübersehbar wird dies am Tafelwerder, auf dem die Stadt Halle ihre Kläranlage errichtet hat, damals eine der modernsten ihrer Art. Über einen Sammelkanal, der entlang der Saale aus der Stadt hinaus nach Norden führt, werden die Abwässer in die Anlage geleitet (diesen unterirdischen „Wasserweg“ zeigt das Messtischblatt allerdings nicht). Heute befindet sich hier das Pumpwerk, welches die Abwässer zur neuen Kläranlage Halle-Nord auf der anderen Flussseite leitet.

Meßtischblatt 4437 : Halle (Nord) a.d. Saale, 1942

Scale: 1 : 250000

Description: Halle (Nord) a.d. Saale. – Aufn. 1902, hrsg. 1904, bericht. 1940. – 1:25000. – [Berlin]: Reichsamt für Landesaufnahme, 1942. – 1 Kt.

http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71054646/df_dk_0010001_4437_1942

Diese Ausgabe spiegelt den Stand von 1940, dem zweiten Jahr des Zweiten Weltkriegs. Die Gebäude der Wasserglasfabrik dienen offenbar nicht mehr zur Produktion und werden, wie die der ehemaligen Alaunfabrik, längst zum Wohnen genutzt. Die gewaltigste Veränderung hat allerdings östlich des Tafelwerders stattgefunden: hier ist in den Jahren 1926-1931 das Hafenbecken des neuen Saalehafens Halle-Trotha entstanden. Entlang der von Trotha kommenden Brachwitzer Straße reihen sich  Speicher- und andere Funktionsgebäude. Nordwestlich des Tafelwerders zeigt sich ebenfalls etwas Neues, das das gesamte Gebiet bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts prägen sollte: Hier sind nämlich „Schießstände“ eingezeichnet, welche den Beginn der Nutzung der Franzigmark als militärisches Übungsgelände markieren.

Meßtischblatt 4437 : Halle (Nord) 1950iger, AMS M841

Scale: 1:25.000

https://www.landkartenarchiv.de/vollbild_messtischblatt.php?q=blatt90972

Halle (North) – US-Army, 1950er Jahre

Scale: 1:25.000

https://www.landkartenarchiv.de/vollbild_messtischblatt.php?q=GermanyMaps_1900_high

Dieses Blatt zeigt nur wenige Veränderungen gegenüber dem letzten. Es steht offenbar unter der Hoheit der Besatzungsmächte, hier der US-Army. Das Gelände zwischen den ehemaligen Fabriken und dem Saaleufer weist nach wie vor keine eigens errichteten Wohnhäuser auf. Die alten Industriegebäude werden allerdings längst zum Wohnen genutzt, eine Notwendigkeit, die sich mit der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg (ausgebombte oder vertriebene Familien suchten Wohnraum) noch verstärkt hatte.

Eine 1947 im ehemaligen Hauptgebäude der Alaunfabrik geborene Dame erzählte mir kürzlich von ihrer Kindheit dort. Die Post wäre stets noch adressiert gewesen an „Morl, alte Alaunfabrik“.

Es war diese herzliche, beeindruckende Frau, die mich auch mit dem Bekenntnis überraschte, sie habe sich in ihrem Leben nie freier gefühlt, als in der Franzigmark.

Aber auch solches Gefühl ist subjektiv: wie werden es die Rekruten der in Halle stationierten „11. Mot.-Schützen-Divison“, der motorisierten Infanterie der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) erfahren haben, die in das nun militärische Übungsgelände Franzigmark ausrücken mussten? Einer von ihnen erzählte mir kürzlich: Sie seien froh gewesen, wenn sie von der Kaserne in der Paracelsusstraße hätten dorthin marschieren müssen: Dann sei die meiste Zeit mit dem Laufen vergangen und sie hätten keine nervtötende Ausbildung in der Kaserne gehabt.

Spätere Kartenausgaben weisen den toten Saalearm immer noch als stehendes Gewässer aus, dessen südöstlicher Teil (auf dem Gebiet des heutigen Trothaer Hafens) bereits früh zugeschüttet worden war. Der Rest des toten Arms verlandete, ein allmählicher Vorgang, den die Karten lange Zeit nicht dokumentieren.

Die Topografische Karte 1:10.000 (TK10) von 1998 (hier aus urheberechtlichen Gründen nicht abgebildet) zeigt annähernd den heutigen Zustand: das ehemals stehende Gewässer hat sich in ein Sumpfgebiet verwandelt. Die Götsche, die einstmals an der Stelle, wo sie von der Brachwitzer Straße überbrückt wird, in die Saale mündete, fließt heute durch den verlandeten Saalearm hindurch, um südöstlich unterhalb des „Gut Alaune“ in den Fluss zu münden. Dieses Gebiet ist heute derart zugewachsen und verwildert, dass es kaum zugänglich ist – die Natur ist hier also weitgehend ungestört. Das hat aber Menschen nicht gehindert, in diesem Biotop ihren Müll abzuladen – wie es sich bei der „Entrümpelungsaktion“ des „Gut Alaune e. V.“ im Frühjahr des Jahres gezeigt hatte.

Alle, die etwas zur Geschichte dieser Gegend beitragen können, sind herzlich eingeladen, ihre Erinnerungen und sonstigen Beiträge an folgende Adresse zu senden: al.pohlmann@web.de